Ein Biopic über Astrid Lindgren erzählt von den dunkelsten Jahren der schwedischen Kinderbuchautorin. Es ist eine Emanzipationsgeschichte, die allerdings blutleer bleibt – im Gegensatz zu Lindgrens Büchern.
Björn Hayer
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In ihren Büchern scheint die Welt noch in Ordnung zu sein: Seien es Texte wie «Wir Kinder aus Bullerbü» oder ihr «Michel aus Lönneberga» – Astrid Lindgrens Kinderbuchklassiker sind Gemälde idyllischen Landlebens. Wo sich ihre jungen Helden entfalten, sind die Gefährdungen und Brüche der modernen Welt weit entfernt. Dass sich die 1907 im schwedischen Vimmerby geborene Schriftstellerin in ihrer Literatur eine Gegenwelt zu einer für sie ernüchternden Realität geschaffen hat, verdeutlicht Pernille Fischer Christensens Filmbiografie «Astrid».
Geschichten als Alternativen
Es ist weniger ein Werk über die Autorin und das Universum all ihrer verspielten Charaktere als vielmehr über eine Frau, die sich schon lange vor #MeToo in einer patriarchalen Gesellschaft bewähren muss. Im Zentrum stehen insbesondere ihre frühen Jahre: das Aufwachsen in kleinbürgerlichen Verhältnissen, die sonntäglichen Kirchgänge, die Prüderie der Provinz, die Beschwernisse der Landwirtschaft. Als sie eine Stelle als Sekretärin bei einer Lokalzeitung antritt, nimmt ihr zuvor geregeltes Leben eine rasche Wende. Sie verliebt sich in den noch verheirateten Herausgeber Blomberg (Henrik Rafaelsen), von dem sie ein uneheliches Kind erwartet. Um dessen Reputation zu wahren, verheimlicht sie ihren Sohn Lasse zunächst und gibt ihn zu einer Pflegemutter.
Die Jahre der Entbehrungen zeigt die Regisseurin in zumeist dunklen, grauen Aufnahmen. Ihre Hauptdarstellerin Alba August bringt uns eine Heldin näher, die früh lernen muss, auf eigenen Beinen zu stehen, und die zwischen Lebenshunger und -müdigkeit mäandert, eine, die nicht aufgibt und in ihren Geschichten Alternativen zu ihrer Gegenwart sucht. Man denke nur an ihre Pippi Langstrumpf: ohne Vater und Mutter verbringt diese ein weitgehend glückliches Dasein mit ihren Tieren auf einem kunterbunten Hof. Gezeichnet wird ein freies Kinderparadies, das es so wohl nur in der Literatur geben kann. Wie das fiktive und reale Dasein aufeinanderprallen, zeigt Christensen in ihrem Film vor allem in Szenen von Zugfahrten. Immer dann, wenn Astrid ihr Elternhaus verlässt, um etwa zu ihrem Sohn oder nach Stockholm zu fahren, schauen wir in Nahaufnahmen in ihr trauriges, sich in den Waggonfenstern spiegelndes Gesicht. Und während sie immer wieder Abschied nimmt, hören wir Stimmen aus dem Off: Kinder loben in Briefen an die Autorin die Stärke ihrer Figuren, deren Widerstandskraft und Fähigkeit, mit Verlusten umzugehen.
Am 14. November vor 110 Jahren wurde die schwedische Autorin Astrid Lindgren (1907 - 2002) geboren. Mit ihren Kinderbüchern hat sie weltweit mehr als nur eine Generation geprägt. – Ihr Debütwerk schrieb Lindgren 1945 mit der Geschichte von Pippi Langstrumpf. Bild: Filmstill: Die 10-jährige Inger Nilsson als Pippi Langstrumpf in einer Verfilmung aus dem Jahr 1969. (Bild: imago/United Archives)
Bis die Literatin selbst eine souveräne Haltung in einer frauenfeindlichen Gesellschaft finden wird, stehen ihr noch einige Krisen bevor. So muss sie neben ihren beruflichen Verpflichtungen bald schon ihren Sohn zurückholen und langsam wieder eine Bindung zu ihm aufbauen. Leider räumt das Biopic recht wenig Zeit für Astrids Geschichten ein, die zum einen eben der Stabilisierung ihrer Beziehung zu ihrem Kind und zum anderen auch ihrem persönlichen sozialen Aufstieg dienen. Von der gefeierten Schriftstellerin Lindgren sehen wir nur in wenigen Einstellungen den Rücken einer gealterten Frau am Schreibtisch. Auf der Ebene der Rahmenerzählung öffnet sie die Zuschriften ihrer jungen Leser. Dass uns Christensen zu wenig über die engagierte Gesellschaftskritikerin erzählt, die sich doch gerade in späteren Jahren politisch für Kinder und im Tierschutz einsetzen sollte, ist schade.
Hätte der Film intensiver auch jene Hochphase der Autorin und ihres Schreibens in den Blick genommen, wäre ihrer vielschichtigen Entwicklung von einer missachteten, alleinerziehenden Mutter zur international gefeierten Fabuliermeisterin mehr Rechnung getragen worden. Immerhin weist der Schluss andeutungsweise auf die Wende nach einem langen Leidensweg hin: «Du musst springen durch den Tod in das Leben», hören wir ein Kind aus dem Off singen. Erst ihre Krisen haben ihr den Reichtum an Lebenserfahrung gebracht, aus dem sich ihre Werke nähren.
Das Kino liebt Frauenporträts
Jenseits des eindimensionalen und sehr ausschnitthaften Porträts ist die insgesamt konventionelle und recht ambitionslose Dramaturgie, die weitestgehend auf ästhetische Finessen verzichtet, ein Schwachpunkt. Als sehenswert erweist sich das Biopic lediglich, wenn man es ausschliesslich als eine Geschichte weiblicher Emanzipation wahrnimmt. Es fügt sich dann in die Reihe der in den letzten Jahren beliebten kinematografischen Frauenporträts wie etwa «Hannah Arendt» (2012), «Paula» (2016) oder «Lou Andreas-Salomé» (2016).
★★☆☆☆ Kinos Arena, Arthouse Piccadilly, Houdini, Kosmos in Zürich.
Aldo Keel
Aldo Keel